Bleibende Fragen nach 15 Jahren
von Ulrich Schwemer

Ich zögere, denen zuzustimmen, die - auch im Ev. Arbeitskreis Kirche und Israel - meinen, ein solcher Satz wäre heute in der Synode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau nicht mehr durchsetzbar. Vielleicht vergisst man dabei zu leicht, dass bis zur Entscheidung ein langer Weg zu gehen war. Wenn es wirklich noch nicht die Ergänzung des Grundartikels gäbe, hätte man ihn vielleicht nicht in den vergangenen Jahren durchsetzen können, in denen die Strukturdebatte das kirchliche Leben bestimmte. Aber wenn es den Mangel einer fehlenden Erklärung gäbe und die Notwendigkeit von einigen gesehen würde, würde die Debatte in der Synode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau offen, kontrovers aber schließlich erfolgreich geführt werden.

Wichtiger als diese etwas resignierende Feststellung ist die Erkenntnis der Aktualität dieses Themas auch in der heutigen Zeit und der Start neuer Initiativen auf der Ebene der Dekanate und Gemeinden.

Jetzt, im Jahr 2006, nach fünfzehn Jahren, könnte der Zeitpunkt hierfür gekommen sein.

Es ist auch die Zeit, die Wirkung der GA-Ergänzung zu prüfen. Probeweise habe ich mich dieser Aufgabe unterzogen:

Aus Blindheit

2 Mose 34, 34f

Und wenn er hineinging vor den HERRN, mit ihm zu reden, tat er die Decke ab, bis er wieder herausging. Und wenn er herauskam und zu den Israeliten redete, was ihm geboten war, sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Dann tat er die Decke auf sein Angesicht, bis er wieder hineinging, mit ihm zu reden.

2 Kor 3,12-14

Weil wir nun solche Hoffnung haben, sind wir voll großer Zuversicht und tun nicht wie Mose, der eine Decke vor sein Angesicht hängte, damit die Israeliten nicht sehen konnten das Ende der Herrlichkeit, die aufhört. Aber ihre Sinne wurden verstockt. Denn bis auf den heutigen Tag bleibt diese Decke unaufgedeckt über dem Alten Testament, wenn sie es lesen, weil sie nur in Christus abgetan wird.

Eigene Blindheit zu bekennen, war nicht Teil der kirchlichen Tradition. Schon die Darstellungen an romanischen und gotischen Domen haben die Blindheit der Synagoga vorbehalten (vgl. in unserer Region: Dom zu Worms am Südportal/Haupteingang), die stets mit verbundenen Augen dargestellt wurde. Gerne hat die Kirche die paulinische Deutung übernommen, die die Decke auf dem Angesicht des Mose als Ende der Herrlichkeit Gottes deutete.

Die eigene Blindheit aber für Gottes Treue zu seinem Volk Israel machte Christen unfähig, rechtzeitig entschieden zu handeln.

Frage:
- Haben wir das Bild von der triumphierenden Ekklesia und der blinden Synagoga wirklich überwunden?
- Achten die theologische Wissenschaft und die Predigt auf eine angemessene Redeweise über den jüdischen Glauben?

und Schuld

Ps 32,5

Darum bekannte ich dir meine Sünde, und meine Schuld verhehlte ich nicht. Ich sprach: Ich will dem HERRN meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde.

Mt 6,12

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Jak 2,10

Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig.

Schuld wird im Christentum gerne gleich gesetzt mit der Vergebung, die uns zugesagt ist. Und ganz gewiss haben wir diese Vergebung auch nötig. Doch allzu oft fordern sie Christen auch ein als etwas, das ihnen zusteht. Dass der Vergebung ein Bekenntnis vorangehen muss und auch die Bereitschaft, andere Schuld zu vergeben, wird leicht vergessen.

Frage:
- Hat die Ev. Kirche in Hessen und Nassau jemals expressis verbis die Schuld der Ev. Landeskirche Nassau-Hessen, deren Landesbischof Dietrich von einem judenchristlichen Pfarrer als dem "Judenstämmling" Lebrecht sprechen konnte18, bekannt oder sich auf der Tatsache ausgeruht, dass der erste Kirchenpräsident Niemöller ausgewiesen war durch seinen Widerstand gegen das "3. Reich"?
- Haben die Kirchengemeinden in ihre Chroniken geschaut und das Verhalten ihrer Pfarrer und Gemeinden im "3. Reich" zur Kenntnis genommen?19

zur Umkehr gerufen,

Hiob 41, 5+6

Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche.

Apg 11,18

Als sie das hörten, schwiegen sie still und lobten Gott und sprachen: So hat Gott auch den Heiden die Umkehr gegeben, die zum Leben führt!

Als Umkehr haben die Mitglieder der Synode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau 1991 den Schritt verstanden, das Verhältnis der Kirche zu ihren Wurzeln im Judentum als Teil ihres christlichen Bekenntnisses zu benennen. Buße und Umkehr ist allerdings kein mit der Ergänzung des Grundartikels abgeschlossener Vorgang.

Frage:
- Umkehr ist ein zu gehender Weg. Welche Schritte sind bisher gegangen worden?
- Sind wir gegen jede Form von Antisemitismus in unseren Gemeinden eingetreten?
- Haben wir selber auf Klischees verzichtet, wenn es z.B. um die Bewertung des Nahostkonfliktes ging (z.B. Auge um Auge)?

bezeugt die Ev. Kirche in Hessen und Nassau

1.Chr 29,20

Und David sprach zur ganzen Gemeinde: Lobet den HERRN, euren Gott! Und die ganze Gemeinde lobte den HERRN, den Gott ihrer Väter, und sie neigten sich und fielen nieder vor dem HERRN und vor dem König.

Ps 22,23

Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern, ich will dich in der Gemeinde rühmen.

Ps 74,2

Gedenke an deine Gemeinde, die du vorzeiten erworben und dir zum Erbteil erlöst hast, an den Berg Zion, auf dem du wohnest.

Das Bekenntnis wird nicht nur vom Einzelnen gefordert, sondern es ist Teil des Selbstverständnisses der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. Damit übernehmen die Kirche, ihre Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer und auch alle Ehrenamtlichen eine große Verantwortung in der Verkündigung wie auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.

In der Ev. Kirche in Hessen und Nassau kann nicht mehr antijüdisch gepredigt, unterrichtet, gesprochen werden, ohne sich außerhalb der Ordnungen der Ev. Kirche in Hessen und Nassau zu stellen.

Frage:
- Halten die Sonntagspredigten diesem Anspruch stand?
- Verzichtet der Religions-/Konfirmandenunterricht auf die Klischees von Gesetz und Evangelium, Gott der Liebe, Gott der Rache?

neu

Jer 31, 31-33

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.

1.Joh 1,9

Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.

Eigentlich hätte man es wissen können.

Immer gab es Christen, die die Wurzeln ihres Glaubens im Judentum erkannten, selbst wenn sie am Ende die Hinwendung der Juden zu Christus erwarteten, selbst Luther war sich des Jude-Seins Jesu bewusst. Der Pietismus erkannte die Wurzeln im Judentum in seinem Glaubensvollzug.

Deshalb bekennt die Ev. Kirche in Hessen und Nassau neu, wiederholt sie etwas, was eigentlich im Bewusstsein des Glaubens angelegt ist.

Frage:
- Hat sich etwas in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau verändert?
- Ist die Verkündigung jetzt unverkennbar neu?
- Ist in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau ein "Gottesdienst in Israels Gegenwart" selbstverständlich?

die bleibende Erwählung der Juden

Jes 14,1

Denn der HERR wird sich über Jakob erbarmen und Israel noch einmal erwählen und sie in ihr Land setzen. Und Fremdlinge werden sich zu ihnen gesellen und dem Hause Jakob anhangen.

Röm 11,28

Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.

Nach Jahrhunderten, in denen die christliche Kirche sich selber als das erwählte Volk Gottes sah, in denen die Kirche alle Verheißungen auf sich selbst bezog, ohne auch konsequent die Strafpredigten Gottes auf sich zu beziehen, fällt es noch immer schwer zu begreifen, dass es da eine lebendige Religion gibt, die nicht nur Wurzel des christlichen Glaubens ist, sondern auch neben dem Christentum seit 2000 Jahren existiert. Dass Gott Jüdinnen und Juden und zugleich auch Christinnen und Christen erwählen kann, ist in das theologische Denken der Christen neu einzubeziehen.

Frage:
- Verzichten wir in der Ev. Kirche in Hessen und Nassau auf den "Alleinvertretungsanspruch" des Christentums?
- Ist für uns Jesus Christus wohl Ziel, aber nicht Ende des Gesetzes/der Weisung?

und Gottes Bund mit ihnen.

2.Mose 19,5

Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein.

Röm 9, 1-5

Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören, und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.

Wenn die Kirche sich an Pfingsten nicht nur der Ausgießung des Heiligen Geistes und der Feuer- und Winderscheinungen erinnerte, sondern auch des dazugehörigen jüdischen Festes, das den Bundesschluss am Sinai zum Inhalt hat, dann könnte sie erkennen, dass es bei Gott nicht nur einen einzigen Bundesschluss gibt, der andere ausschließt. Vielmehr schließt Gott immer wieder seinen (einseitigen) Bund mit den Juden und (hoffentlich) auch mit den Christen.

Frage:
- Begreifen wir den Bund, den Gott mit uns in Christus geschlossen hat als Auftrag, nicht aber als Privileg?
- Wenden wir uns im Gott des neuen Bundes auch zu dem Gott des alten Bundes und so vieler neuer Bundesschlüsse?

Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.

Kol 1,18

Und er (Christus) ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, damit er in allem der Erste sei.

Mit der Aufnahme der Barmer Theologischen Erklärung in den Grundartikel hat die Ev. Kirche in Hessen und Nassau von Anfang an sowohl die altkirchlichen als auch die reformatorischen Bekenntnisse in das Licht des Kirchenkampfes gestellt. Diese Bekenntnisse dürfen nicht entstellt werden durch Ideologien oder Glaubensverfälschungen, wie sie durch die "Deutschen Christen" erfolgten.

Das Verhältnis zu den Juden wird hier nicht ausdrücklich angesprochen, deshalb musste dies ergänzt werden.

Frage:
- Ist dieses Bekenntnis von allen Mitgliedern der Ev. Kirche in Hessen und Nassau ernst genommen worden?
- Ist es bei den Ordinationsgelübden mehr als ein Lippenbekenntnis?
- Können sich vor der Ergänzung des Grundartikels Ordinierte wirklich darauf zurückziehen, sie seien ja noch nach der alten Formel ordiniert worden?

Weitere Fragen:
- Könnte meine Verkündigung vor und nach Auschwitz dieselbe sein?
- Habe ich als Christ eine besondere Beziehung zum Staat Israel?
- Wie hältst du's mit dem Judentum? (Titel des Jubiläumsbuches des Ev. Arbeitskreises Kirche und Israel)
- Ist auch für Juden Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben?

aus. Materialdienst 5/2006

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