Kirche nimmt Abschied vom Antijudaismus
von Ulrich Schwemer

"Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie (die Ev. Kirche in Hessen und Nassau) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließ dieses Zeugnis ein"

Diesen Satz hat die Synode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) Anfang Dezember 1991 mit überwältigender Mehrheit als Ergänzung des Grundartikels der EKHN beschlossen.

Der Grundartikel ist als Präambel der Grundordnung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) vorangestellt. Auf ihn werden alle Pfarrerinnen und Pfarrer ordiniert. Er bezieht sich auf die Bekenntnisse der alten Kirche und die reformatorischen Bekenntnisschriften. Über diese alten kirchlichen Bekenntnisse hinaus bezieht sich die EKHN auch auf die "Theologische Erklärung von Barmen". Hiermit geht die Ev. Kirche in Hessen und Nassau weiter als viele andere Landeskirchen.

Die Theologen von Barmen beschränkten sich 1934 allerdings auf den innerkirchlichen Kampf um die rechte Lehre gegenüber den "Deutschen Christen". Es unterblieb eine theologische Verhältnisbestimmung von Christen und Juden, die kirchliches Handeln angesichts zunehmender Repression und Verfolgung von Juden und Judenchristen hätte verändern können. Die dann von der Synode der EKD 1950 in Berlin-Weißensee bekannte Schuld am jüdischen Volk hat im mangelnden Bewußtsein der tiefen Verwurzelung des christlichen Glaubens im Judentum ihre Wurzeln.

Nachdem seit 1961 auf dem Berliner Kirchentag die "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen" versuchte, diese Zusammenhänge aufzudecken und seit 1975 auf der Ebene der EKD und in verschiedenen Landeskirchen Stellungnahmen zum Verhältnis von Christen und Juden formuliert worden waren, versuchte man in der EKHN aufbauend auf diesen anderen Eklärungen, der neuen Verhältnisbestimmung Gesetzeskraft zu geben. Nach mehrjähriger Debatte beschloß die Synode der EKHN den oben zitierten Satz.

In ihm nimmt die EKHN Abschied von der jahrhundertealten christlichen Überzeugung, daß mit Jesus Christus das Judentum überholt sei und es neben dem Christentum keine Existenzberechtigung mehr habe. Diese antijüdische Überzeugung hat die Kirche zu einem der Wegbereiter des neuzeitlichen Antisemitismus und damit auch des Holocaust, der massenhaften, technisch durchgeführten Judenvernichtung werden lassen.

Deshalb beginnt der Satz mit dem Hinweis auf christliche Schuld und die Notwendigkeit zu neuem Denken. Die Begegnung mit dem Judentum nach dem Holocaust öffnete manchen Christen die Augen für die Ursache der Schuldverstrickung der Kirche, nämlich die eigene Überheblichkeit: Christen hatten gemeint, über Gottes Heilszusagen für das Volk Israel selber entscheiden zu können. Nichts anderes geschah nämlich, wenn Christen von den Juden als den Verworfenen und von Gott Bestraften redeten. Oder wenn sie den Juden, die unter ihnen lebten, die Schuld am Tode Jesu vorhielten. Auch dem Vorwurf von Brunnenvergiftung, Hostienschändung und Kindermord war die Kirche nie wirksam entgegengetreten, ja bis in unser Jahrhundert hinein haben Christen selber solche Lügengeschichten verbreitet.

Die Jahrestage des Jahres 1992 stellen noch einmal den engen Zusammenhang zwischen christlicher Ablehnung des Judentums und dem neuzeitlichen, rassisch bestimmten Antisemitismus heraus. Am 20. Januar jährte sich zum fünfzigsten Mal der Tag der "Wannseekonferenz". Hier wurden die Durchführungsbestimmungen der zuvor bereits erprobten Massenvernichtung von Menschen entwickelt und anschließend in die Tat umgesetzt. Was einerseits als rassistischer Wahn beurteilt werden könnte, hat doch tiefe Wurzeln in der christlichen Geschichte. Der fünfhundertste Jahrestag der Vertreibung der Juden aus Spanien, der ebenfalls in das Jahr 1992 fällt, ist nur ein deutlicher Hinweis auf die Vorprägungen in der christlichen Geschichte. Auch hier wurde der Tod vieler Menschen billigend in Kauf genommen oder sogar bewußt herbeigeführt.

Christen glaubten sich in dem Sinne auserwählt, wie es Juden nie für sich selber gesehen hatten, wie es ihnen aber immer vorgeworfen wird: Christen fühlten sich als das auserwählte Volk Gottes, neben dem ein anderes Volk Gottes keinen Platz mehr hatte. Christen fühlten sich im Recht, Gottes Gerichtswerkzeug zu werden. Und es ist zu befürchten, daß bei vielen Christen auch heute noch solche oder ähnliche Vorstellungen lebendig sind.

Gegen diese christliche Irrlehre muß das Bekenntnis zu Gottes Treue und damit auch zur bleibenden Erwählung Israels und Gottes Bund mit ihm ausgesprochen werden.

Bei vielen Menschen weckt ein solcher Satz Angst: Wie steht es um das eigene christliche Bekenntnis, wenn doch auch die Juden in Gottes Bund stehen, wenn auch die Juden weiterhin Volk Gottes sind? Diese verständliche Angst zeigt zugleich das Vergessen der jüdischen Wurzeln des Christentums.

Wie kann man aber Jesus ohne seine jüdische Tradition verstehen. Wie können wir von Gottes Treue sprechen, wenn wir zugleich seinen Bund mit Israel zerbrechen sehen. Nach christlichem Versagen an Juden und vielen anderen Völkern dürften wir kaum Hoffnung haben, selber noch von Gott angenommen zu sein.

Was mit dem kurzen Satz in das Gesetz der Ev. Kirche in Hessen und Nassau aufgenommen worden ist, muß im praktischen Vollzug des christlichen Lebens umgesetzt werden. Es gilt, auf antijüdische Äußerungen in der alltäglichen Sprache wie im theologischen Reden zu achten. Es sind keine läßlichen Sünden, wenn z. B. noch immer Juden mit Geschäftemachern gleichgesetzt werden oder wenn behauptet wird, der jüdische Gott sei ein Gott der Rache während der christliche Gott der Gott der Liebe sei. Juden und Christen verbindet der Glaube an den einen Gott, wie er im Alten und Neuen Testament bezeugt wird, und dieser Gott kann strafen und lieben.

Die Diskussion in der Synode und in der Landeskirche ließ auch die Frage wieder wach werden, welche Aussagen das Neue Testament zur bleibenden Erwählung Israels macht. Textstellen lassen sich für die Erwählung und auch die Verwerfung finden. Aussagen über Jesus als "Weg, Wahrheit und Leben" stehen in Gegensatz zu paulinischen Aussagen im Römerbrief, wo er über das Wie des Weges Israels zum Heil keine Aussage macht. Er beschränkt sich darauf, auf die Rettung auch Israels zu vertrauen, ohne über das Wie zu spekulieren. Aber selbst Paulus hat auch andere Aussagen über die Juden, z.B. im 1. Thessalonicherbrief gemacht, wo er für die weitere Kirchengeschichte so verhängnisvoll sagt: "Die (Juden) haben den Herrn Jesus getötet" (1. Thess. 2, 15a). Aber gerade an Paulus wird auch deutlich, daß biblische Texte nicht ohne ihren historischen Zusammenhang und ohne die Zielrichtung einer Aussage als Argumente benutzt werden dürfen.

Aber selbst ohne diesen Vorbehalt fällt es schwer, evangelikaler Kritik zu folgen, die schlichtweg behauptet, die Verfechter des Ergänzungssatzes müßten im Blick auf die von der Synode bekannte "bleibende Erwählung der Juden" eine andere Bibel haben. Oder wie ist Röm 15, 8 zu verstehen: "Christus ist ein Diener der Juden geworden, um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind"?

Lange Zeit war an den früheren Formulierungsvorschlägen kritisiert worden, die Aussage über Jesus Christus sei mißverständlich. Der nun beschlossene Satz trägt dieser Sorge Rechnung. Daß der Glaube an Jesus Christus das Bekenntnis zur bleibenden Erwählung der Juden einschließt, kann nicht mehr in dem Sinne mißverstanden werden, daß die bleibende Erwählung nur durch Christus wirksam sei. Vielmehr wird nun klar herausgestellt, daß die Person des Juden Jesus selbst und die Verwurzelung seiner Verkündigung in den Verheißungen für das jüdische Volk dieses Bekenntnis fordert. Zu lange ist diese Einsicht in der christlichen Kirche übersehen worden.

aus: Materialdienst 1/1992

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