"Aus Blindheit und Schuld..."

Viele Christen mögen sich die Augen reiben, wenn sie hören, dass sie aufgerufen sind, aus "Blindheit und Schuld" umzukehren. War nicht das ihnen überlieferte Selbstverständnis der Kirche immer klar und eindeutig? War die Kirche nicht die allein seligmachende, und damit wahre Glaubensgemeinschaft. Sind Unrecht und Gewalttat, die von Christen ausgingen, nicht unchristliche Auswüchse menschlicher Schwäche, ohne die Wahrheit des christlichen Glaubens zu widerlegen? Warum dann umkehren aus "Blindheit und Schuld"?

"Blindheit und Schuld" waren Begriffe, die die Kirche in ihrer Geschichte für andere aufbewahrt hat. Bei anderen Religionen entdeckten Christen blinden Glauben und schuldhaftes Verhalten. Vornehmlich gegenüber den Juden galten der Kirche diese Begriffe als angemessen. Ja, sie wurden als so treffend angesehen, dass die "Blindheit" Israels immer wieder auch in Bildern und Skulpturen in Büchern und an Domen dargestellt wurde.

Viele mögen am Straßburger Münster die großen Statuen "Ecclesia" und "Synagoga" gesehen, ihre großartige Ausdruckskraft bewundert und so das Bild der strahlenden Kirche und der blinden, gebrochenen Synagoga in sich aufgenommen haben. Wie sie haben über Jahrhunderte immer wieder Christen diese Bilder an ihren Domen betrachtet, z.B. auch am Südportal des Wormser Domes, und die in Stein gemeißelte Botschaft vernommen: Israel hat seit Christus keine Existenzberechtigung mehr, der Speer ist gebrochen, das Szepter ist auf die Kirche übergegangen.

Doch Christen begegneten Juden in ihren Straßen, sie lebten mit ihnen zusammen, kannten einander. Über lange Jahrzehnte lebten sie auch gut und in Frieden miteinander. Wenn aber soziale Spannungen auftraten, wenn Krankheiten die Menschen geißelten und Tausende und Abertausende Menschen den Seuchen zum Opfer fielen, dann entdeckten sie die Juden unversehens als Gegner: als die, die Schuld sind am sozialen Elend, die Urheber von Seuchen und Krankheiten sind, als die, die den Herrn Christus gekreuzigt haben.

Und von der Schuldzuweisung zum Urteil, zur Verfolgung und Ermordung war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Die jüdischen Gemeinden am Rhein, in Frankfurt aber auch sonst überall im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation sind von diesen Gewaltorgien geprägt.

Ein Schuldbewusstsein ist aber nur schwer auszumachen. Schnell tröstete man sich mit einer Schuldzuweisung gegen die Juden. Alle einzelnen Vorwürfe gipfelten immer in der Behauptung: Sie haben den Herrn gekreuzigt.

So sprachen über Jahrhunderte Christen von "Blindheit und Schuld", wenn sie von den Juden sprachen. Die Juden wären blind, weil sie in Jesus nicht den Messias erkannt hätten. Sie wären schuldig, weil sie ihn gekreuzigt hätten. Dermaßen abgestempelt konnte das christliche Abendland sie immer mehr unterdrücken, ihnen bestimmte Wohngebiete, Ghettos, zuweisen, sie in Zwangsdialogen, deren Ausgang von vornherein feststand, scheinbar ihres Unglaubens überführen, ihnen den gelben Kreis anheften, der sie als Juden kennzeichnete. Von hier war es dann nicht mehr weit zu dem gelben Judenstern in unserem Jahrhundert.

Angesichts dieser "christlichen" Geschichte von Hochmut, Gewalttat und Unterdrückung müssen wir heute erkennen, dass das christliche Urteil über die Juden, sie seien blind und schuldig, längst auf uns selber zurückgefallen ist. Auf allen Ebenen kirchlichen Lebens und Lehrens hat die Kirche gegenüber den Juden versagt. Sie ist blind gewesen gegenüber dem biblischen Zeugnis der bleibenden Erwählung Israels und ist schuldig geworden an den Juden bis hin zu ihrer Vernichtung.

So waren Christen in diesem Jahrhundert auch nicht der Herausforderung des rassischen Antisemitismus gewachsen. Die Verführung des Rassismus, der den Schwachen und Ausgestoßenen immer in den anderen und sich selber als strahlenden Herrenmenschen sieht, machte vor der Kirche nicht halt. Christen konnten das Judesein Jesu leugnen. Christen konnten versuchen, die Heilige Schrift zu "entjuden" und Kirchenlieder zu "arisieren". Christen fanden keine Kraft, der Forderung der Antisemiten zu widerstehen, Judenchristen aus ihren Reihen auszustoßen. Blindheit und Schuld forderten ihren bitteren Tribut in der Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Europa.

Aus Blindheit und Schuld heute zu lernen, ist noch immer leider keine Selbstverständlichkeit. Noch immer verzichten kirchliche Lehre und Verkündigung auf den Kanzeln nicht auf die über Jahrhunderte liebgewordene Schwarz-Weiß-Malerei von alt und neu, von Gesetz und Evangelium, von Rache und Liebe, von national und universal. Und noch immer wird auch jüdisches Handeln in der Gegenwart, vor allem das Verhalten des Staates Israel mit diesen falschen Floskeln beurteilt. Blindheit und Schuld sind noch nicht überwunden, sondern machen sich immer wieder breit.

Diese theologische Erläuterung der beiden Sätze, um die der Grundartikel der EKHN erweitert wurde, hat der heutige Evangelische Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau - ImDialog, 1991 veröffentlicht.
Wie hat sich seitdem die christlich-jüdische Verhältnisbestimmung entwickelt? Welche der in dieser Erklärung formulierten Erläuterungen wären heute eventuell anders zu formulieren?
Wir bitten Sie, uns Ihre Anregungen über ga25@imdialog.org mitzuteilen und haben vor, diese demnächst öffentlich zugänglich zu machen.

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