"...die bleibende Erwählung der Juden..."

Gott erwählt das jüdische Volk und wendet sich damit ihm zu. Er bleibt seinem Volk in guten wie schweren Zeiten seiner Geschichte treu. Fürsorgend begleitet er es in seiner unergründlichen Liebe. Auf seinem Volk liegt die Verheißung:

"Denn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker - denn du bist das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten." (Dtn. 7, 6-8 )

Gott erwählt das jüdische Volk aus freiem Willen. Er schließt damit keine anderen Völker aus. Schon Abraham wird verheißen, dass er und seine Nachkommen zum Segen auch für "alle Geschlechter auf Erden" (Gen 12,3) werden. Damit ist die Erwählung des jüdischen Volkes Gabe und Aufgabe zugleich. Die Aufgabe der Erwählung, Segen für alle Völker zu werden, ist die Antwort der Erwählten auf die Gabe Gottes.

Gott steht zu seiner Erwählung des jüdischen Volkes. Dies wird gleichermaßen in der Hebräischen Bibel und im Neuen Testament betont. Für Paulus bleibt die Erwählung Israels sogar dann gültig, wenn sein Volk das Evangelium ablehnt. Für ihn ist auch die Ablehnung des Evangeliums durch die Juden Teil des Heilshandelns Gottes, nämlich "um euretwillen" (Röm. 11,28), also um der Rettung der Nichtjuden willen. Gott erwählt demnach sein Volk unabhängig vom Glauben, auch unabhängig vom Glauben an Jesus Christus.

Im Glauben an Jesus Christus sind die Christen ihrerseits Kinder der Verheißung. So sind auch sie Geliebte und Erwählte Gottes. Jahrhundertelang bis in die Gegenwart allerdings behaupteten Christen, das jüdische Volk sei als Volk Gottes durch die Kirche ersetzt worden; die Kirche habe das Erbe der Gnadengaben, die einst dem jüdischen Volk zugesprochen waren, angetreten; die Kirche sei von Gott in Jesus Christus zum wahren Israel erwählt worden. Mit diesen Aussagen bestritt die Kirche dem jüdischen Volk die bleibende Zuwendung Gottes. Sie verneinte das Existenzrecht der Juden. Dagegen sagt Paulus: "Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen." (Röm 11, 28) Für ihn ist die Ablehnung Jesu als Messias nicht gleichbedeutend mit der Auflösung der Beziehung zwischen Gott und seinem jüdischen Volk. Wenn auch aus der Sicht der Christusbotschaft Juden als "Feinde" Gottes erscheinen, so bleiben sie doch aus der Sicht des erwählenden Handeln Gottes Geliebte. Diese Spannung muss ausgehalten werden.

Seit Jahrhunderten löste christliche Lehre dieses Heilshandeln Gottes zugunsten einer Seite auf. Wir müssen heute erkennen, dass damit die biblische Wahrheit verkürzt wurde und wird. Paulus hat das Geheimnis der Auflösung dieser Spannung allein Gott anheimgestellt. Er kann nur Gottes Weisheit und Erkenntnis lobpreisen: "0 welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn 'wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?' (Jes. 40, 13) Oder 'wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?' (Hiob 41,3 ) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen" (Röm. 11, 33-36).

Gott sucht die Menschen als Juden und Nichtjuden. Seine Wege stehen nicht in Konkurrenz zueinander und schließen einander nicht aus; sie ergänzen sich vielmehr. Denn von Anfang an sind in der Erwählung der Väter alle Völker in die Gnadengaben Gottes einbezogen.

Diese theologische Erläuterung der beiden Sätze, um die der Grundartikel der EKHN erweitert wurde, hat der heutige Evangelische Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau - ImDialog, 1991 veröffentlicht.
Wie hat sich seitdem die christlich-jüdische Verhältnisbestimmung entwickelt? Welche der in dieser Erklärung formulierten Erläuterungen wären heute eventuell anders zu formulieren?
Wir bitten Sie, uns Ihre Anregungen über ga25@imdialog.org mitzuteilen und haben vor, diese demnächst öffentlich zugänglich zu machen.

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